Digitale Transformation im Schweizer Gesundheitswesen: Trends und Perspektiven
AWS Experience Event openEHR Switzerland Symposium 5. Mai 2025
Gespräch mit Lukas Bieri und Silvan Tschopp I 7.5.2025
Könnt ihr euch kurz vorstellen? Welche Rolle habt ihr bei ipt?
Lukas Bieri (LBI): Ich bin Principal Architect und Director bei ipt. Derzeit arbeite ich hauptsächlich für das BAG im Rahmen der DigiSanté-Initiative. Sowohl als ipt-Mitarbeiter als auch als Einwohner der Schweiz liegt mir die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens besonders am Herzen – ich bin überzeugt, dass sie langfristig einen bedeutenden Mehrwert für uns alle schaffen wird.
Silvan Tschopp (STS): Ich bin Principal Consultant und Director bei ipt. Neben meiner Arbeit in Kundenprojekten verantworte ich die Weiterentwicklung unseres Branchenteams im Gesundheitswesen. Aktuell leite ich beim Bundesamt für Gesundheit ein Architekturmandat zur Erneuerung der Plattform für die Überwachung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.

Ihr habt am openEHR Switzerland Symposium von AWS teilgenommen. Könnt ihr kurz beschreiben, was openEHR ist?
LBI: openEHR (open electronic health record) ist ein Standard, der helfen soll, eines der grössten Probleme im Gesundheitswesen zu lösen: die Interoperabilität. Medizinische Daten sind extrem komplex – um sie IT-seitig verständlich und nutzbar zu machen, müssen sie strukturiert modelliert werden. openEHR bietet dafür einen vielversprechenden Ansatz.
Ein grosser Vorteil von openEHR ist, dass sich damit sogar komplette Klinikinformationssysteme (KIS) auf offenen Standards entwickeln lassen – wie das Universitätsspital Basel eindrucksvoll gezeigt hat. Auch Cistec setzt mit dem Umbau seines bestehenden KIS (KISIM) auf openEHR. Zusätzlich wird der Standard etwa zur Modellierung von Daten in Data Lakes verwendet (Kantonsspital Aarau) oder für den sicheren Austausch medizinischer Informationen im Gesundheitsdatenraum. Angesichts seiner wachsenden Rolle in Forschung und Lehre ist zu erwarten, dass openEHR künftig noch stärker von der Industrie aufgegriffen wird.
STS: openEHR – übrigens oft wie „open air“ ausgesprochen – ist derzeit noch weniger verbreitet als der bekanntere Standard HL7 FHIR. Während FHIR primär für den API-basierten Austausch von Gesundheitsdaten genutzt wird, überzeugt openEHR bei der konsistenten Speicherung in Clinical Data Repositories. Ziel ist es, klinische Daten von der zugrunde liegenden Software zu entkoppeln.
Welche zentralen Trends im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung und Dateninteroperabilität habt ihr auf dem Symposium identifiziert?
STS: Wenn man über Digitalisierung im Gesundheitswesen spricht, landet man schnell beim Thema fehlender Datenaustausch zwischen den Akteuren. Vielen ist jedoch nicht bewusst, dass bereits einzelne Institutionen – etwa Spitäler – Mühe haben, Patient:innendaten systemübergreifend zu nutzen und auszuwerten. Ein Beispiel aus dem Kantonsspital Aarau zeigte: Trotz Einführung eines Data Warehouses blieb der erwartete Nutzen gering – die zugrundeliegenden Daten waren zu unstrukturiert. Nun wird auf openEHR gesetzt, um Daten schon an der Quelle möglichst strukturiert zu erfassen.
LBI: Daten sind im Gesundheitswesen zentral. Ein klarer Trend ist die zunehmende Investition in die Umwandlung medizinischer Berichte und Freitexte in strukturierte Daten. Ziel ist es, die Datenbasis über verschiedene IT-Systeme hinweg – oft sogar innerhalb eines Spitals – besser synchron zu halten, den Austausch mit anderen Leistungserbringern zu vereinfachen und die Sekundärnutzung zu erleichtern. Gleichzeitig stärkt dies die Kontrolle über eigene medizinische Daten und reduziert die Abhängigkeit von proprietären Lizenzen.
Welche konkreten Learnings nehmt ihr aus den Vorträgen und Diskussionen mit – insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen bei der Umsetzung von openEHR in der Schweiz?
STS: Besonders spannend fand ich, wie weit die Einführung von openEHR in Deutschland bereits fortgeschritten ist. Dort gibt es beeindruckende Erfolgsgeschichten – davon können wir in der Schweiz bislang nur träumen. Gleichzeitig ist es motivierend zu sehen, dass sich auch hierzulande das Engagement der Community zunehmend auszahlt und das Thema Fahrt aufnimmt. Ein wiederkehrender Rat vieler Referent:innen war: Einfach mutig starten – auch wenn der Weg anfangs noch nicht vollständig klar ist.
LBI: openEHR erfordert fundiertes Wissen in der Datenmodellierung. Gerade bei spezifischen medizinischen Fragestellungen stehen teilweise noch keine standardisierten Modelle zur Verfügung. Dennoch: Der Standard existiert seit über 20 Jahren, und der Core hat sich in dieser Zeit kaum verändert. Das zeigt, wie stabil und ausgereift openEHR ist. Es hat sich als Modellierungs-Framework etabliert – und immer mehr Akteure im Markt setzen darauf.
Wie lässt sich die Expertise von ipt mit den Anforderungen und Zielen im Gesundheitswesen verbinden?
STS: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist besonders herausfordernd, da sie eine Vielzahl heterogener Stakeholder einbezieht: Leistungserbringer wie Spitäler und Ärzt:innen, Krankenversicherer, Pharmaunternehmen, Politik, Gesetzgeber und nicht zuletzt die Bürger:innen. Technologie ist dabei nur ein Mittel zum Zweck. Mit unserer breiten Erfahrung in digitalen Transformationsprojekten verstehen wir das grosse Ganze. Wir schaffen Verbindungen, bringen die relevanten Akteure zusammen und helfen, tragfähige und nachhaltige Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.
LBI: Wir bei ipt bringen tiefgreifendes technisches Know-how mit – sei es im sicheren und skalierbaren Aufbau von Cloud- und On-Prem-Infrastrukturen oder in Bereichen wie Security, Data & AI und der Entwicklung individueller Applikationen. Genau dieses Digitalisierungswissen braucht das Gesundheitswesen, um den Wandel erfolgreich zu gestalten.
In welchen Bereichen seht ihr die grössten Chancen, die digitale Transformation im Schweizer Gesundheitswesen aktiv mitzugestalten?
STS: Ich sehe drei zentrale Trends:
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Outsourcing: Aus Kostengründen und durch zunehmende Spezialisierung werden immer mehr IT-Komponenten ausgelagert – von Infrastruktur in die Cloud bis hin zu Patienten-Frontends. Das schafft einen hohen Bedarf an sicherer Integration und Adoption.
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Security & Datenschutz: Mit der externen Speicherung und Verarbeitung sensibler Daten steigen auch die Anforderungen an Sicherheit und Compliance. Leider werden diese Themen oft durch Halbwissen verzerrt, was Projekte unnötig blockiert.
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Data & AI: Besonders in der MedTech-Branche sehen wir grosse Potenziale. Smarte Geräte wie Sportuhren, Hörhilfen oder Insulinmessgeräte sammeln enorme Datenmengen. Diese sinnvoll zu nutzen – etwa für neue Geschäftsmodelle oder personalisierte Services – ist ein stark wachsender Bereich.
LBI: Als Consultants haben wir einen breiten Branchenüberblick, von dem einzelne Akteure stark profitieren können. Kurzfristig sehe ich grosses Potenzial im Bereich Cloud und Data Analytics. Langfristig werden fast alle IT-Trends, die heute branchenübergreifend wichtig sind, auch das Schweizer Gesundheitswesen beeinflussen. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam mit aktuellen und künftigen Schlüsselakteuren partnerschaftlich relevante Themen vorantreiben können.
Welche zukünftigen Entwicklungen erwartet ihr im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung – und wie kann ipt strategisch darauf reagieren?
STS: Die Vision eines Gesundheitsdatenraums finde ich besonders inspirierend: Relevante Daten werden standardisiert bereitgestellt, sodass alle Beteiligten unter Berücksichtigung von Recht, Sicherheit und Datenschutz darauf zugreifen können. Der Haken: Der Anreiz fehlt aktuell völlig. Zwar klagen Ärzt:innen über den hohen Dokumentationsaufwand, doch ein digitaler Datenaustausch bringt ihnen finanziell keinen direkten Vorteil – für die Vorbereitungszeit gibt es keine Tarife, das heisst die Krankenkassen bezahlen nur für direkt erbrachte Aufwände wie Sprechstunden und Untersuchungen. Dieses Beispiel zeigt, dass es auch regulatorische Anpassungen braucht, um Digitalisierung wirksam zu fördern. Wenn dieser Wandel in den nächsten 5–10 Jahren einsetzt, wird er eine Welle an Innovation auslösen – und wir wollen dafür bereit sein.
LBI: Das Gesundheitswesen ist stark reguliert – gesetzliche Änderungen wie etwa zum E-Rezept oder zum elektronischen Patientendossier können grosse Auswirkungen haben. Gleichzeitig steigen die Gesundheitskosten stetig, medizinisches Personal ist knapp, und Patient:innen erwarten heute digitale Services mit nahtlosem Datenaustausch. Viele dieser Herausforderungen lassen sich nur mit gezielten Investitionen in moderne IT lösen. Genau hier kann ipt mit ihrer technologischen und methodischen Expertise einen wertvollen Beitrag leisten.
Das Gespräch führte Noemi Haag, ipt Marketing. Vielen Dank für die Einblicke!

Über mich
Ich bin Principal Architect bei ipt und begleite die DigiSanté-Initiative des BAG. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens liegt mir besonders am Herzen.

Über mich
Ich bin Principal Consultant bei ipt und leite das Branchenteam Gesundheitswesen. Aktuell leite ich ein Architekturmandat beim BAG zur Erneuerung der Plattform für übertragbare Krankheiten.